Interview mit Dr. Abdelghafar Salim
Migration und demographische Veränderungsprozesse werden seit mehreren Jahren intensiv in Deutschland diskutiert. Muslim:innen und ihre Lebenswelten werden dabei oft von einer äußeren und vereinfachten Perspektive betrachtet. Dr. Abdelghafar Salim nimmt in seinem Buch Lebensweltliche Alltagspragmatik und islamische Normativität Muslim:innen in den neuen Bundesländern, ihre religiösen Praktiken, Verhältnisse zur Religion und normativen Aushandlungsprozesse in den Blick. Seine Monographie möchte zu einer Perspektivenerweiterung und einer gesamtgesellschaftlich inklusiveren Diskussionskultur beitragen. Wir haben dem Autor einige Fragen zu seinem Werk gestellt:
Ihr Buch basiert auf ethnografischer Forschung. Wie lange haben Sie geforscht und welche Methoden kamen dabei zum Einsatz?
„Bei ethnografischer und interdisziplinärer Forschung, wie in meinem Fall, dauert der Forschungsprozess in der Regel etwas länger. Im Gegensatz zu rein literaturbasierten Studien, die sich vor allem mit vorhandenen Quellen beschäftigen, hängt der Forschungsprozess bei ethnografischer Arbeit wesentlich von Daten ab, die erst während der Erhebungsphase generiert werden. Erst im Anschluss daran beginnen die Analyse und der Schreibprozess. Insgesamt habe ich fünf Jahre an diesem Forschungsprojekt gearbeitet, wobei ich zwischen 2019 und 2021 eine intensive Feldforschung durchgeführt habe. Dabei kamen vielfältige ethnografische Methoden zum Einsatz, insbesondere teilnehmende Beobachtung, ethnografische Interviews, Familien- bzw. Haushaltsgespräche (Household Interviews) sowie digitale Erhebungsmethoden wie Zoom- und WhatsApp-Gespräche, die während der Corona-Pandemie verstärkt genutzt wurden.“
Gab es ein Ereignis, eine besondere Herausforderung oder vielleicht auch einen erfreulichen Moment, der den Forschungsprozess maßgeblich geprägt hat?
„Die COVID-19-Pandemie hat meine Feldforschung, deren Herzstück die teilnehmende Beobachtung und das Eintauchen in die Alltagswelten muslimischer Geflüchteter bildet, während ihrer zweiten Phase (Mai bis November 2020) stark beeinträchtigt. Aufgrund der Kontaktbeschränkungen und eingeschränkten Bewegungsfreiheit musste ich die Feldforschung kurzfristig neu ausrichten und auf alternative Methoden der Datenerhebung zurückgreifen. So kamen virtuelle Techniken der ethnografischen Forschung (Remote Ethnography) wie Telefongespräche und Skype-Interviews zum Einsatz. Obwohl diese Methoden die Feldforschung vor Ort (being there) nicht vollständig ersetzen konnten, eröffneten sie manchen Gesprächspartner:innen dennoch die Möglichkeit, offener über ihre Lebenswelten zu sprechen, ohne unmittelbar ihre äußerliche Identität preisgeben zu müssen. Dies empfanden einige Teilnehmende durchaus als befreiend und positiv.“
Warum war es Ihnen wichtig, den Fokus Ihrer Forschung auf Muslim:innen in den neuen Bundesländern zu legen?
„Mir war es wichtig, den Fokus meiner Forschung auf Muslim:innen in den neuen Bundesländern zu legen, da Ostdeutschland als Forschungsgebiet bisher stark marginalisiert wurde. Wenn es in bisherigen Studien um die Geschichte des Islam oder muslimische Lebenswelten in Deutschland geht, geschieht dies meist implizit aus einer westdeutschen Perspektive heraus, ohne differenziert auf regionale Besonderheiten einzugehen. Dabei unterscheiden sich Ost- und Westdeutschland hinsichtlich ihrer Migrationsgeschichte deutlich voneinander. Anders als im Westen ist in Ostdeutschland die muslimische Organisationsstruktur und Infrastruktur, einschließlich religiöser Dienstleistungen wie islamischer Seelsorge, Sozialarbeit oder islamischer Religionsunterricht, bislang nur schwach ausgeprägt. Zudem trägt die historisch gewachsene Distanz der ostdeutschen Bevölkerung gegenüber Religion dazu bei, dass Berührungspunkte mit religiösen Traditionen und Ausdrucksformen hier seltener stattfinden. All dies beeinflusst maßgeblich die Bedingungen und Möglichkeiten religiöser Praxis und lässt somit neue, kontextspezifische Erkenntnisse erwarten.“
Ihr Buch möchte zu einer inklusiveren Diskussionskultur beitragen. In welchen gesellschaftlichen oder politischen Bereichen sehen Sie den dringendsten Bedarf für neue Perspektiven auf muslimische Lebenswelten?
„Der dringendste Bedarf für neue Perspektiven auf muslimische Lebenswelten zeigt sich aus meiner Sicht vor allem in drei Bereichen:
Erstens in der öffentlichen Debatte: Wenn über Muslim:innen gesprochen wird, dominieren häufig pauschalisierende und negative Vorstellungen über sie und ihre Religion. Es braucht eine inklusivere Betrachtungsweise, die über vereinfachende Vorannahmen hinausgeht und die Vielfalt muslimischer Lebensrealitäten anerkennt. Ziel sollte es sein, nicht über Muslim:innen zu reden, sondern mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
Zweitens in den politischen Debatten über Integration: Hier bedarf es eines grundlegenden Perspektivwechsels. Integration darf nicht länger als einseitige Forderung an bestimmte Gruppen – etwa Muslim:innen oder Geflüchtete – verstanden werden. Vielmehr sollte sie im Sinne einer postmigrantischen Perspektive als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen werden. Das bedeutet, auch strukturelle Barrieren, Fragen der Anerkennung, ungleiche Zugänge zu Ressourcen und Bildung sowie gesellschaftliche Ausschlüsse kritisch in den Blick zu nehmen.
Drittens hinsichtlich der Marginalisierung muslimischer Lebenswelten in Ostdeutschland: Muslimische Perspektiven und Erfahrungen bleiben hier aufgrund geringerer gesellschaftlicher und institutioneller Sichtbarkeit besonders häufig unbeachtet. Neue Perspektiven müssen daher die spezifischen Herausforderungen und Bedürfnisse von Muslim:innen in Ostdeutschland stärker sichtbar machen – ohne sie implizit durch die westdeutsche Geschichte muslimischer Präsenz zu interpretieren. Vielmehr gilt es, ostdeutsche Kontexte und Entwicklungen eigenständig zu betrachten und anzuerkennen.“
Mit seiner Forschung liefert Dr. Salim wichtige Impulse für eine differenzierte Auseinandersetzung mit muslimischen Lebenswelten in Ostdeutschland – und öffnet neue Räume für eine gesamtgesellschaftlich inklusive Diskussion.